Mit seiner neuen Brille will der TikTok-Konzern ByteDance den Durchbruch bei VR schaffen – mit „Mixed Reality“
Auch wenn man nicht gleich jede technische Neuerung bejubelt, sollte man hin und wieder einen Blick in die Zukunft wagen. Während KI derzeit in aller Munde ist, scheint virtuelle Realität, kurz VR, noch immer ein Thema für technikbegeisterte Eingeweihte zu sein. Klar, die Idee, sich in künstlich erzeugte Welten zu flüchten, mag einem auf den ersten Blick suspekt vorkommen. Sehr viel einleuchtender scheint das schon das Konzept der so genannten Mixed Reality. Dabei wird die reale Umgebung nicht ausgeblendet, sondern um digitale Informationen erweitert. Diese Funktion bietet nach der Meta Quest 3 nun auch die VR-Brille PICO 4 Ultra für knapp 600 Euro. Der erbitterte Zweikampf der beiden Konzerne – dem Facebook-Betreiber Meta und der chinesischen Firma ByteDance, deren bekanntestes Produkt die Videoplattform TikTok ist – ist eine wichtige Triebfeder der Entwicklung. Bringt einer von beiden ein neues Produkt auf den Markt, kann man sicher sein, dass der andere bald nachzieht. Fürs erste hat nun wieder ByteDance die Nase vorn.
Die PICO 4 Ultra bietet nicht nur zwei zusätzliche Kameras für den so genannten Passthrough, also das Live-Abbild der momentanen Umgebung, das um digitale Bilder ergänzt wird. Zudem haben diese mit zweimal 32 Megapixel eine doppelt so hohe Auflösung wie der Konkurrent. Hinzu kommen 12 GB RAM Arbeitsspeicher, vier GB mehr als das Flaggschiff von Meta. Aber was kann man damit anfangen? Zum Beispiel kann man einen oder mehrere virtuelle Bildschirme vor sich im Raum schweben lassen und mit einer kabellosen Tastatur darauf arbeiten wie auf einem realen Monitor. Das ermöglicht vollkommen ortsunabhängiges Arbeiten und sorgt, wie ich beim Testen feststellen durfte, für ein fantastisches Freiheitsgefühl. Setzen Sie sich einfach auf einen Sessel oder legen Sie sich auf eine Couch, Tastatur auf den Schoß, und schreiben und surfen Sie einfach drauflos. Mit der integrierten Arbeitsoberfläche haben Sie gleich ein ganzes Büro mit an Bord. Man braucht dafür lediglich die Brille und zwei Steuerungseinheiten für die Hände, keinerlei sonstige Zusatzgeräte oder Kabel.
Mit einem Klick am Südseestrand
Wollen Sie die Umgebung ganz ausblenden, etwa für ein paar Minuten Erholung an einem virtuellen Südseestrand, schalten Sie den Passthrough einfach aus. Die Illusion, an einem anderen Ort zu sein, ist dann perfekt. Und ja, das kann für manchen auch etwas verstörend sein. Dank inzwischen weit fortgeschrittener Technik, hoher Bildwiederholungsraten sowie der Möglichkeit, den Augenabstand individuell anzupassen, ist das bei VR gelegentlich auftretende Unwohlsein inzwischen aber selten. Okay, Wirklichkeit wieder anschalten und ab zu einer virtuellen Trainingseinheit. Denn zur Einführung der neuen PICO liegen dem Paket nicht nur wie üblich zwei Handsteuerungen bei, sondern auch zwei Sensoren, die „Motion Tracker“, die sich per Klettband an den Beinen befestigen lassen. Dank des damit möglichen „Ganzkörper-Trackings“, kann man nun beispielsweise auch Torwandschießen oder Tanzschritte üben. Eine weitere spannende Neuerung: Mittels der eingebauten Kamera kann man direkt mit der Brille dreidimensionale Fotos und Videos aufnehmen. Das ist zum Beispiel hilfreich, wenn man eine Immobilie besichtigt und jemandem, der nicht dabei sein kann, später einen Eindruck davon vermitteln will. Will man nicht mit der Brille zur Besichtigung gehen: Man kann das 3D-Video auch mit dem iPhone 15 Pro aufzeichnen und sich dann später mit der Brille anschauen.
Natürlich hat man bei technischen Neuerungen immer die Sorge, dass die Geräte irgendwann vom Markt verschwinden und es keine neuen Anwendungen mehr gibt. Im Falle der PICO-Brille ist diese Gefahr eher gering, nicht nur, weil der TikTok-Konzern dahintersteht. Schon jetzt ist die Brille kompatibel mit über 20 MR- und 778 VR-Apps, die, so der Hersteller, „eine enorme Vielfalt an audiovisuellen Unterhaltungs- und Produktivitätsprogrammen abdecken“. Mit der App „SteamVR“ kann man außerdem VR-Titel des größten digitalen Spieleanbieters Steam übertragen. Ein Wermutstropfen mag für viele der Anbieter selbst sein, dessen Rolle mindestens umstritten ist. So gerät TikTok immer wieder in die Schlagzeilen, etwa mit Datenschutzverletzungen. Hinzu kommt die unangenehme Nähe zum chinesischen Regime. Aber so ist das eben: Der Blick in die Zukunft mag oft verlockend sein, ganz ungetrübt ist er eigentlich nie.
erschienen in: Kölner Stadt-Anzeiger, Magazin
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